Navid Kermani und der Benz seines Vaters | 27 Zukunft gerecht Talk

Shownotes

Navid Kermani beherrscht alle literarischen Gattungen vom Roman über das Sachbuch bis zur Reiseliteratur. In seinen Texten und Reden setzt er sich mit gesellschaftspolitischen Fragen zu Migration, Flucht und Kultur auseinander. Politisch engagierte er sich schon früh in der Friedens- und Umweltbewegung. Er stammt aus einer Arztfamilie, konnte aber als jüngster Sohn einen Berufsweg einschlagen, der seinen Interessen entsprach. Häufige Schulwechsel hinderten ihn nicht daran ein Studium der Orientalistik aufzunehmen. Durch den Arztberuf des Vaters wuchs er, anders als viele andere Migrant*innen seiner Generation, privilegiert auf. Heute setzt er seine politischen Hoffnungen auf die jüngere Generation.

Hinweis: Diese Folge wurde bereits am 21.2.2025 aufgezeichnet.

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00:00:00: Das heißt, ich habe viele der Erfahrungen, die Migranten meiner Generation gemacht haben,

00:00:05: aus eher Arbeiterverhältnissen, die hatte ich so nicht gehabt in der frühen Kindheit.

00:00:10: Das war bei uns, bei mir alles ein bisschen weicher.

00:00:12: Und die Einheit hat uns alle, mich speziell, wirklich vorkommen überraschend auch irgendwie

00:00:19: auf dem falschen Fuß erwischt.

00:00:21: Dann kam bei mir noch hinzu, dass dann sofort die ausländerfeindlichen Ausstreitungen hinzukamen.

00:00:26: Das heißt, ich merkte, ich habe wirklich Angst gehabt.

00:00:29: Die einzige Möglichkeit, die wir haben, um unsere Interessen durchzusetzen, ist Europa.

00:00:34: Herzlich willkommen zum Zukunftgerecht Talk der Friedrich-Ebert-Stiftung.

00:00:44: Mein Name ist Christian Krell.

00:00:45: Ich darf diesen Podcast für die FES moderieren.

00:00:48: Und ich will das so machen, wie ich es immer versuche.

00:00:51: Ich will ein Gespräch unter Freunden führen, offen, ehrlich, auch kritisch, aber immer

00:00:56: einander zugewandt.

00:00:57: Und ich freue mich wirklich außerordentlich über unseren heutigen Gesprächspartner und

00:01:02: Gast.

00:01:03: Er ist jemand, für den seine Tochter, wenn ich es richtig überschaue, eine eigene Berufsbezeichnung

00:01:08: erfunden hat.

00:01:09: Er ist ein Lesschreiber, jemand, der liest und schreibt und zwar jede Menge schreibt,

00:01:15: ein Schriftsteller, ein Reporter, ein Publizist, ein ehemaliger Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung,

00:01:21: ein habilitierter Orientalist, ein Publizist.

00:01:24: Er hat Preise gewonnen, die wir jetzt nicht alle aufzählen könnten, weil das unsere Zeit

00:01:28: sprengen würde.

00:01:29: Er ist einer der bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands und vielleicht genauso schön,

00:01:34: er ist Fan und Mitglied des 1.

00:01:36: FC Köln.

00:01:37: Herzlich willkommen, Navid Kerman.

00:01:38: Hallo, guten Tag.

00:01:39: Schön, dass Sie da sind.

00:01:40: Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben.

00:01:43: Wir reden mit unseren Gästen zum Einstieg in das Gespräch immer über einen Ort der

00:01:49: Gerechtigkeit, einen bestimmten Ort, den Sie mit den Anfängen Ihres politischen Engagements,

00:01:54: Ihres politischen Denkens in Verbindung bringen.

00:01:56: Bei manchen war das der Küchentisch der Eltern, bei anderen der Jugendtreffe, in dem Sie zum

00:02:00: ersten Mal aktiv waren.

00:02:01: Gibt es so einen Ort bei Ihnen?

00:02:03: Na ja, ich bin eher aufgewachsen als Sohn, iranischer Einwanderer und ich war elf, als

00:02:10: die iranische Revolution begann und es war natürlich bei uns wie bei allen Iranern ein

00:02:16: riesiges Ereignis.

00:02:17: Also das hat auch bei mir dazu geführt, dass ich jeden Tag damals Nachrichten geguckt

00:02:21: habe, angefangen habe Zeitung zu lesen, also früher als vielleicht viele andere meiner

00:02:26: Mitschüler mich für politische Dinge interessiert habe.

00:02:29: Und wenn ich jetzt zwei Ereignisse herausgreifen soll, dann ist zwei Dinge, die mich wirklich

00:02:36: geprägt haben, als ich jetzt über Ihre Frage nachgedacht habe, auch am Vorfeld, weil das

00:02:41: vielleicht zusammenfasst, was mich insgesamt noch mal auf den Weg gebracht hat.

00:02:44: Das Erste war, da war ich vielleicht fünf oder sechs, ich weiß gar nicht mehr genau,

00:02:49: ich war im Haus meiner Tante, die in Teheran wohnte, also nicht wie die meisten anderen

00:02:54: Verwandten in Isfahan und ich hatte aus Deutschland irgendetwas gehört von Savak, Geheimdienst,

00:03:00: also irgendwas hatte ich im Ohr, weiß gar nicht woher, vielleicht von meinen Brüdern

00:03:03: oder von irgendwoher.

00:03:04: Und wir waren zu Hause am Abendbrottisch oder am Mittagstisch, weiß ich gar nicht genau

00:03:10: und ich stellte einfach als fünf-, sechsjähriger Junge eine Frage in den Raum, was ist da mit

00:03:15: dem Savak?

00:03:16: Und dann plötzlich merkte ich, dass alle ganz, ganz stumm wurden.

00:03:20: Also plötzlich, das war wirklich extrem und ich merkte, oh ho, das ist eine andere, das

00:03:27: ist hier Unfreiheit, das ist was anderes, ich kann eine solche Frage nicht einmal an

00:03:31: dem eigenen Tisch stellen nach dem Savak, nach den Morden, nach den Folterungen.

00:03:36: Und das war schon ein sehr frühes Erkenntnis, dass die Art und Weise, wie wir in Deutschland

00:03:43: leben und in das ich hineingeboren bin, nicht sehr verständlich ist.

00:03:47: Und dann war ich natürlich auch, habe ich diese Revolution mitbekommen und dann das eigentliche,

00:03:52: wenn Sie fragen, der Beginn meiner eigentlichen politischen, wie soll ich sagen, Tätigkeit

00:03:57: oder meines Engagements, das war in Siegen.

00:04:00: Das war ganz konkret die Bürgerinitiative Umweltschutz in Siegen, das war so ein bisschen

00:04:04: der Nukleus der Grünen in Siegen.

00:04:07: Also das war ganz früh, Petra Kelly war eine ganz große Heldin für mich.

00:04:11: Und dann natürlich Friedensbewegungen, ich war 13, 14 beim Hofgarten in Berlin, in Bonn

00:04:17: dabei, Willy Brandt, also das war wirklich diese Friedens- und Umweltbewegung, das war

00:04:23: ganz klar meine politische Prägung und ist es auch bis heute geblieben.

00:04:26: Ich war auch wirklich dabei bei all diesen Demos und Blockade, Verteidigungsministerium

00:04:31: und all das und wenn ich diesen Gedanken noch einmal konkret noch mal ausführen darf,

00:04:37: das red ich zwar so lange, aber weil es eben auch so interessant ist, glaube ich, die beiden

00:04:41: Dinge zu verbinden, das war dann, wir wollten die Haartöne blockieren, also aus Siegen

00:04:46: mit dem Bus und so weiter und plötzlich musste ich aus dem Bus aussteigen, weil irgendwer

00:04:52: fragte, was passiert denn, wenn die dich festnehmen und ich hatte einen Iranisch Pass.

00:04:58: Und es war damals, hätte das einfach, obwohl ich in Deutschland geboren bin, wäre das

00:05:03: ein riesen Problem gewesen, bis hin, dass Ausweisungen und all das, das waren die Verhältnisse,

00:05:08: dass man, weil ich einen deutschen Pass noch hatte, sondern nur einen iranischen Pass, obwohl

00:05:13: ich bis dahin komplett Teil dieser Bewegung, dieser jungen Menschen war, im letzten Augenblick

00:05:18: irgend einem einfiel, nach meinem Pass zu fragen und er hat mich dann aus dem Bus geleitet,

00:05:23: weil er dachte, das Risiko, das wenn ich festgenommen werde, ist absolut unvertretbar und es wäre

00:05:29: auch, da bin ich ihm immer noch dankbar.

00:05:31: Aber es zeigt ja auch, wie privilegiert es ist, in diesem freien Land groß zu werden,

00:05:37: mit einem deutschen Pass groß zu werden.

00:05:39: Hatte ich eben nicht.

00:05:40: Genau, das habe ich verstanden.

00:05:42: Aber ich glaube, manchmal wirkt es so selbstverständlich und die Geschichte macht so deutlich, ist

00:05:47: es alles andere als selbstverständlich, diese Freiheiten, die wir genießen.

00:05:50: Es gibt einen Ort, den haben wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten kennengelernt, glaube ich, die

00:05:56: Bücherkiste in Siegen. Eine kleine Buchhandlung, die besonders ist, weil ich sie immer als

00:06:03: Ort wahrgenommen habe, wo nicht das Verkaufen von Büchern im Vordergrund steht, sondern

00:06:07: das Nachdenken über Bücher, das Nachdenken über große Ideen.

00:06:11: Ist das so eine Verbindung quasi zwischen Ihrem Les, Schreiben und dem politischen Denken,

00:06:16: diese Bücherkiste?

00:06:17: War die wichtig dafür?

00:06:18: Ja, absolut.

00:06:19: Die war auf die Wahl ganz in der Nähe in Weitendau, neben dem Gymnasium, von dem ich dann geflogen

00:06:24: bin. Da war ich dann sehr oft bei Horst und so ein langjähriger Typ, der irgendwie natürlich

00:06:31: nicht so aussah wie meine Lehrer, das war eher so, wie man an der Schule nicht aussehen

00:06:36: durfte. Das war einfach toll. Er hat mich auch immer ernst genommen und hat mir Büchertipps

00:06:40: gegeben, also Rotbuch. Das waren die ersten Kinder-Jugendbücher, die er mir empfohlen

00:06:45: hat. Ich kann mich noch erinnern an diese, ich glaube es gab bei Ro, so eine Reihe Rotbuch

00:06:49: oder sowas, weiß gar nicht mehr. Also so eher politisch engagierte Jugendbücher. Das

00:06:53: war auf jeden Fall ein ganz wichtiger Bezugspunkt. Ich glaube nicht nur für mich, sondern in

00:06:57: der kleinen Stadt Siegen oder Mittelstadt gab es ja nicht so viele Orte. Der Ort, wo wir

00:07:02: uns getroffen haben, weil sie nach dem einen Ort gefragt haben, auch das ist unvergessen

00:07:07: für mich, das war die ESG, also Evangelische Ständengemeinde. Das war der Ort in der Oberstadt,

00:07:13: wo sowohl die Bürgerinitiative Umweltschutz immer zusammenkam, als auch die ersten Treffen

00:07:18: der Grünen, wenn ich mich recht erinnere, so stattfanden. Das war auch für mich ein ganz,

00:07:23: ganz wichtiger Ort. Ich war damals mit Abstand der Jüngste, aber irgendwie war das auch super

00:07:30: interessant für mich. Ja, wie ging es dann weiter? Es gab offenbar einen unfreiwilligen

00:07:35: Schulwechsel. Sie sind von einer Schule gekommen. Ja, also nicht wegen meines politischen Engagements,

00:07:43: wobei das auch durchaus eine Rolle spielte, weil das Blaumachen für die Demos ein sehr

00:07:48: konservativen Rektor ist, der ist ausgeflippt. Das war für ihn unerträglich, dass überhaupt

00:07:54: da jemand hingeht, geschweige denn einer seiner Schüler während der Schulzeit. Aber das war

00:07:58: jetzt nicht der Grund, sondern ich war einfach sehr undiszipliniert und so weiter und bin

00:08:02: auch zu spät gekommen und war auf, ich will das jetzt nicht zu einer verklärenden, aber

00:08:07: ich kam mit den Lehrern überhaupt nicht klar und kam dann an eine Schule, wo ich einen

00:08:13: ganz, ich kann das, die Geschichte ist wirklich so frustrierend. Ich habe dann versucht, die

00:08:19: Schule zu wechseln und ich merkte, keine einzige andere Schule nimmt mich auf in Siegen

00:08:22: und ich war schon wirklich verzweifelt. Also egal wo, ich klopfte an und meine Lehrer waren

00:08:27: wirklich verzweifelt und wir hatten schon überlegt, ich müsste nach Heige oder nach

00:08:31: Burbach, ich weiß gar nicht, Dillenburg oder ich weiß gar nicht, wo das nächste Gymnasium

00:08:34: war, hingehen und dann kam ich an eine Schule, Rosterberg in Siegen. Die Siegerländer wissen,

00:08:40: die Berge, alle meine jetzt hier, die vielen, die zuhören. Und da kam ich dahin und da sagte

00:08:46: der Rektor, das war so ein großgewachsener, bisschen auch langhaariger, also jedenfalls

00:08:51: nicht so ganz ganz normale, sagte dann, ich setze mich hin und sagte, ich nehme dich.

00:08:56: Ich war überrascht, wie bitte, wie soll das denn hin? Und dann erzählte er mir, da ist

00:09:01: der Schütz, also mein anderer Rektor, der von dem alten Gymnasium von Fürst John Moritz

00:09:06: alle Rektoren in Siegen angerufen hatte und gesagt hat, nehmt den nicht. Und das hätte

00:09:10: er so gemein gefunden, der Eckhard, und dann sagte, den nehme ich sofort. Aber ich dürfe

00:09:15: ab jetzt keine Metzchen mehr machen.

00:09:17: Hat das geklappt? Haben Sie keine Metzchen mehr gemacht?

00:09:21: Ja, doch, habe ich gemacht, aber ich habe ein Abitur geschafft. Und immerhin so gut,

00:09:26: dass ich bei der Ebert-Stiftung aufgenommen worden bin. Also das war ein echter, also

00:09:29: so ganz schlimm kann es nicht gewesen sein.

00:09:32: In der Tat, das ist ja durchaus auch eine Hürde, so ein Auswahlprozess zu durchlaufen.

00:09:38: Was hat dieses Stipendium hinterlassen?

00:09:39: Ehrlich gesagt, das war ein Grundstudium, das war jetzt eher, das war eine Grundförderung.

00:09:45: Das heißt, meine Eltern, mein Vater war ja Arzt und hat auch, macht auch Geschäft. Also

00:09:50: wir waren finanziell, war das jetzt keine Notwendigkeit, das war eher für mich diese

00:09:54: Seminare und auch, dass ich einen Sprachkurs machen konnte. Und für mich das Prägende

00:09:58: bei der Ebert-Stiftung war, das war genau, es fiel genau zusammen mit dem Fall der Mauer.

00:10:04: Und ich bin als jemand, der komplett westlich sozialisiert worden ist, überhaupt gar keine

00:10:08: Ahnung von Ostdeutschland. Das war für uns überhaupt kein Thema. Also DDR, das war für

00:10:13: uns weiter weg als Nicaragua. Und das meine ich ganz konkret. Also wir wussten, wie es

00:10:18: in Nicaragua aussieht. Wir hatten keine Ahnung, was in Dresden passiert. Und das war auch von

00:10:22: den Lehrern, das war nie ein Thema bei uns. Also DDR war, bei Benny überhaupt irgendwie

00:10:28: rechtskonnotiert, verziebene, irgendwie wollte man das nicht haben. Und die Einheit hat uns

00:10:34: alle, mich speziell wirklich vorkommen überrascht und auch irgendwie auf dem falschen Fuß erwischt.

00:10:41: Dann kam bei mir noch hinzu, dass dann sofort ja die ausländerfeindlichen Ausstreitungen

00:10:45: hinzukamen. Das heißt, ich merkte, ich habe wirklich Angst gehabt. Also ich habe, wenn

00:10:49: heute junge Menschen Angst haben vor der AfD oder vor all diesen Entwicklungen, ich kann

00:10:54: ihnen sagen, das war nichts gegen die Stimmung Anfang der 90er Jahre, wo Asylantenheime

00:10:59: brannten, Solingen, Mölln. Diese Stimmung in der Gesellschaft war damals, habe ich jetzt

00:11:04: wirklich bedrohlich empfunden. Weil heute immerhin, es gibt Anschläge, aber dann steht

00:11:10: die Politik, geht da hin und erklärt sich solidarisch mit den Verfolgten, mit Hanau

00:11:15: oder wo auch immer. Damals war es so, dass der Bundeskanzler sagte, dass etwa Solingen

00:11:21: war, als es darum ging, eine Trauerfeier zu machen für die Opfer des Brandanschlags,

00:11:27: da sagte Helmut Kohl, das sei eine Sache für den türkischen Außenminister, da geht er

00:11:31: nicht hin. Und das war tiefst verletzend und es war zugleich, war in den Jahren, bei der

00:11:37: Ebert-Stiftung war, war es eben Johannes Rau, der da hingegangen ist. Und das war für uns

00:11:41: eine total wichtige Gesten. Und die Ebert-Stiftung, was sie gemacht hat, war, die hat uns zusammengebracht

00:11:48: mit Menschen aus Ostdeutschland, mit jungen Menschen. Und das war für mich super interessant.

00:11:53: Also das, dass wir da die Seminare hatten und ich sofort, ich glaube wirklich im ersten Jahr,

00:11:59: gab es dann so Seminare, für die man nicht anmelden konnte und das habe ich auch gemacht,

00:12:03: wo ich, das klingt als bisschen doof, zum ersten Mal Ostdeutsche getroffen habe. Also

00:12:08: das war prägend für mich und dafür bin ich der Ebert-Stiftung wirklich dankbar, dass

00:12:13: sie so schnell da auch reagiert hat.

00:12:15: Ja und die Menschen zusammengebracht hat sozusagen. Die Baseball-Schlägerjahre, so beschreibt

00:12:22: man ja manchmal diese Zeit auch im Nachgang.

00:12:24: Das war es auch. Das war jetzt wirklich so, das war ein Siegen, war das einfach, es war

00:12:30: gewalttätig. Also das war wirklich kein Witz, das war auch nicht einfach. Und es gab viel

00:12:35: Solidarität von meinen Mitschülern, also es war ja auch eher so ein linkes, grünes,

00:12:39: alternatives Umfeld, in dem ich war, aber die Rechten zeigten sich da auf eine Weise, das

00:12:46: war auch im Nachhinein, läuft es immer noch kalte Rücken runter.

00:12:50: Ja, physischer Bedrohung und Angst.

00:12:53: Ja, ja und bei mir hatte ich noch keinen deutschen Pass. Also das war damals, ich war ja Gast,

00:12:58: also das war damals normal. Also jeder dachte, wir sind Gäste, also wir waren Gastarbeiter.

00:13:04: Das heißt, wir haben, das ganze Bewusstsein war nicht so, dass ich unbedingt dazu gehören

00:13:08: wollte. Es war einfach mein Bewusstsein als jemand, der mit Menschen auf, also der in

00:13:13: iranische Familie kam. Die Leute waren freundlich zu uns. Mein Vater war jetzt auch kein Mittelklasse,

00:13:18: war Arzt, aber wir sind Gäste. Das war einfach das Selbstverständnis von uns und das Selbstverständnis

00:13:24: von all unserer Umgebung. Und das war auch so lange unproblematisch bis 1990, als plötzlich

00:13:31: diese Gäste von einem Teil der Gesellschaft nicht mehr willkommen waren. Und da war der

00:13:36: Gaststatus plötzlich etwas, was irgendwie ein Problem wurde, weil vorher mich da gar nicht

00:13:40: groß drüber nachgedacht.

00:13:42: Wenn man einen großen Sprung macht zu ihren großen Reden, zu ihrem Engagement, zu ihrem

00:13:49: in Erscheinung treten in der Öffentlichkeit, dann fällt ja auf, dass Sie jemand sind, der

00:13:54: dieses Thema Flucht, Zuwanderung, Migration früher und ich glaube auch kontinuierlicher

00:14:00: in den Debattenräumen besetzt hat als anderer. Hängt es mit dieser Gasterfahrung und mit

00:14:06: der Veränderung, mit vielleicht sozusagen dem Gefühl von wachsender Prekarität zusammen?

00:14:12: Wie kam es zu diesem Fokus?

00:14:14: Also nicht bewusst, weil ich muss das immer sagen, ich gehörte keinem Prekariat an. Das

00:14:21: ist eine ganz andere Erfahrung. Wir hatten in den Siegen viele Arbeiter, es war eine

00:14:26: Stahlstadt und da waren natürlich auch viele Türken und Italiener oder andere und ich war

00:14:32: auch im Verhältnis zu denen, auch zu den deutschen Stahlarbeitern total privilegiert. Ich war

00:14:37: einfach, ich wusste das ja auch, als ich mit sechs Jahren war, fing ich an Fußball

00:14:45: zu spielen und da war ich einfach merklich in allem. Das war damals ja noch ein Arbeitersport.

00:14:51: Also ich war fremd, aber nicht, weil ich Iraner war, sondern weil ich halt meinen Vater mit

00:14:55: Bands vorfuhr. Das war halt wirklich was, was mich aussonderte von diesen Jungs da und

00:15:00: das war wirklich, ich musste mich da beweisen gegen die. Da war keine Frage von türkisch

00:15:04: oder deutsch und es war eine Frage von ich Mittelklasse oder oberer Mittelklasse und

00:15:09: meine ganzen Mitschüler, fast alle, kamen halt wirklich so, die kamen zum Teil halt mit

00:15:14: dem Bus dahin oder es gab keine Autos oder es gab, wenn, dann gab es ein Renault 4 oder

00:15:19: so was. Das waren die Unterschiede, nicht deutsch oder iranisch oder so was. Das heißt,

00:15:24: ich habe viele der Erfahrungen, die Migranten meiner Generation gemacht haben, aus eher

00:15:30: Arbeiterverhältnissen, die hatte ich so nicht gehabt in der frühen Kindheit. Das war bei

00:15:35: uns, bei mir alles ein bisschen weicher. Insofern weiß ich nicht genau, wie prägend das war,

00:15:39: aber Flucht natürlich für politische Freiheit, dass man an seinem Ort nicht leben kann, das

00:15:44: war mir natürlich aus Iran vollkommen bekannt. Meine ganze Familie ist mehr oder weniger aus

00:15:49: Iran entflohen. Also die Großteil der Verwandtschaft ist aus Iran raus nach der Revolution. Ob das

00:15:55: jetzt hineingespielt hat, das weiß ich gar nicht genau. Für mich begann das 2005 mit

00:16:02: einer Rede im Burgtheater, da wurde ich gefragt, also es war in einem Jubiläum, ich glaube

00:16:07: 100 Jahre oder so was oder noch länger und dann wurde ich gefragt, das fand ich damals

00:16:12: auch im Nachhinein sehr mutig mit dem damaligen Intendanten und dem Chefdramaturgen, Achim

00:16:17: Cox, der heute im Thaliertheater ist und in seinem anderen, dass sie mich da, ich war noch

00:16:22: sehr jung, mich gebeten haben, die Festrede zu halten über Europa. Und ich habe mich entschlossen,

00:16:28: dass ich diese Rede halte, nicht von Europa aus, sondern dass ich auf Europa blicke, von

00:16:33: Tange, von Marokko aus, wo halt damals die ganzen Brotspflichtigen waren und ich bin,

00:16:39: das war für mich der Prägen, Europa von außen zu sehen. Und dann, was erschreckend

00:16:43: ist, so tiefsterschreckend ist das alles, was ich damals gesehen habe, was ich gesagt habe,

00:16:49: 2005. Also das könnte ich eins zu eins heute genauso sagen. Es hat sich einfach nichts

00:16:54: verändert. Die Debatten drehen sich total im Kreis.

00:16:58: Das sind ja jetzt 20 Jahre, Sie sagen, es hat sich nichts verändert und Positionen,

00:17:04: die Sie damals angemahnt haben, Humanismus, sind wahrscheinlich heute auch noch völlig

00:17:09: randständig, ich würde fast sagen tabuisiert in der öffentlichen Debatte. Wir reden

00:17:13: ja viel über Flucht und Migration, aber der Gedanke, dass wir jemanden helfen, einfach

00:17:17: weil er Mensch ist und das nötig hat, der taucht nach meiner Einschätzung in der öffentlichen

00:17:21: Debatte überhaupt nicht auf.

00:17:23: Ja, wissen Sie, das ist ja das eine, das ist die Ohnmenschlichkeit, also die Art und Weise,

00:17:28: wie über Migranten gesprochen wird, anhand weniger schrecklicher Beispiele von Migranten.

00:17:32: Ich kenne die sozialen Probleme allzu gut, weil ich hier mitten in den sozialen Problemen

00:17:37: lebe. Ich lebe hier in Köln, an der Nähe des E-Bahnplatzes. Da haben wir all das vor

00:17:41: der Haustür, was auch Einwanderung, Migration auch Ungutes bringt. Das erlebe ich jeden Tag

00:17:46: und ich bin da überhaupt nicht naiv. Und es muss auch klar sein, und mir war von vornherein

00:17:51: klar, auch als ich die Balkanroute bereist habe 2015, von der Reportage, als die ganzen

00:17:56: Flüchtlinge kamen, ich kenne Afghanistan gut. Ich weiß, dass so viele Menschen in Afghanistan

00:18:01: traumatisiert sind. Also die haben 40, 50 Jahre lang Krieg. Das sind nicht alle natürlich,

00:18:07: aber es sind traumatisierte Gesellschaften. Auch Syrien, wenn sie überleben, was für

00:18:12: Gewalt die Menschen erlebt haben, zu glauben, das sind alles nur wunderbare Mediziner, Krankenschwester

00:18:17: und die werden uns nur bereichern und es wird alles super sein. Das war illusorisch. Deshalb

00:18:22: war ich auch immer skeptisch bei diesem Herbst der Willkommenskultur, weil ich dachte, das

00:18:26: ist wie Butterzucker. Das ist eine gewaltige Herausforderung. Das ist nicht einfach, so

00:18:33: viele Menschen aus Kriegsgebieten aufzunehmen. Da war ich da eigentlich nie naiv. Aber der

00:18:41: Punkt, den ich eigentlich heute immer wieder versuche zu machen, damals 2005 schon genauso

00:18:45: ist, selbst wenn wir uns mal annehmen, wir würden jetzt versuchen, dass wir wollen nicht

00:18:50: alle aufnehmen, wir wollen das irgendwie begrenzen, wie auch immer, dann grenzt das meinetwegen.

00:18:55: Aber in dem Augenblick, wo wir niemanden legal reinlassen, bricht unser System zusammen.

00:19:01: Das heißt, sie können Migration nur dann begrenzen, sie können Zuwanderung nur dann steuern, wenn

00:19:07: sie legale Zuwanderungsmöglichkeiten noch zulassen. Wenn es überhaupt keine Möglichkeit

00:19:12: gibt, politisches Asyl zu beantragen, und das ist ja mit dem Asylreform passiert, dass

00:19:17: man eigentlich aus dem Flugzeug mit dem Fallschirm springen kann, muss, um in Deutschland politisches

00:19:22: Asyl zu beantragen, weil es keine legalen Möglichkeiten mehr gibt, in Deutschland Asyl

00:19:27: zu beantragen, dann sprengen sie damit eigentlich das System, weil sie eigentlich dafür sorgen,

00:19:32: dass alle Leute auf den illegalen Weg gehen. Und das Problem bei dem illegalen Weg ist,

00:19:37: dass nicht mehr die wirklich Schutzbedürftigen kommen und schon gar nicht diejenigen, die

00:19:41: wir vielleicht als Arbeitskräfte, Akademiker brauchen, sondern es kommen die physisch Stärkeren.

00:19:47: Und das sind halt vor allem die jungen Männer aus eher ärmlichen, ländlichen Gebieten.

00:19:52: Das heißt, dieses System, das wir geschaffen haben, um Flüchtlinge abzuwehren, schadet

00:19:58: uns selbst, schadet der eigenen Gesellschaft. Das heißt, ich versuche gar nicht mehr so

00:20:02: sehr an den Humanismus zu appellieren, sondern ich versuche auf das eigene Interesse hinzuweisen,

00:20:09: dass diese Politik uns schadet. Wenn ich jetzt diesen Gedanken ausführen darf, ich

00:20:16: weiß gar nicht, wann das ausgestrahlt wird, wir sind ja jetzt zwei Tage vor der Bundestagswahl,

00:20:20: wo wir uns treffen hier. Wenn jetzt geglaubt wird, in einem Augenblick, wo es mehr denn

00:20:29: je seit 45 Jahren Europa braucht, weil wir merken, wir sind schutzlos. Deutschland kann

00:20:34: überhaupt nichts tun in der Welt. Luxemburg, Holland, all diese Staaten sind schutzlos

00:20:38: ausgeliefert, dem amerikanischen, dem russischen, dem chinesischen Nationalismus. Die einzige

00:20:44: Möglichkeit, die wir haben, um unsere Interessen durchzusetzen, ist Europa. Und in diesem Augenblick,

00:20:50: in diesem historischen Augenblick, Europa zu torpedieren, indem man an den Grenzen, die

00:20:56: Grenzen wieder schließt, mit all den Folgeerscheinungen, die das für Europa bedeutet, ist oft mit Blick

00:21:03: auf das nationale deutsche Interesse desaströs. Es ist ein katastrophaler Fehler. Das heißt,

00:21:11: hier die strategische Geduld aufzubringen und zu sagen, wir müssen jetzt auf allen Politikfeldern,

00:21:17: ökonomisch, Außenpolitik, Grenzensicherung, braucht es europäische Lösung. In diesem

00:21:24: Augenblick, wo es wirklich drängendere Probleme gibt für Deutschland, um ein paar Wählerstimmen

00:21:30: zu gewinnen oder den AfD-Diskurs zu übernehmen, um irgendwie damit zu machen, den Diskurs

00:21:35: von der AfD bestimmen zu lassen, jetzt auf kleinteilige deutsch-nationale Lösungen zu

00:21:39: setzen, wäre ein verheerender Fehler. Die Klingel mahnt uns, unser Dafür-Dagegenspiel

00:21:46: in den Blick zu nehmen. Wir müssen den Gedanken gleich nochmal aufgreifen. Ich will den vertiefen.

00:21:51: Aber lassen Sie uns unser Dafür-Dagegenspiel spielen. Es geht darum, zu 20 Begriffen einmal

00:21:56: kurz zu sagen, sind Sie dafür, sind Sie dagegen, wie stellt sich das dar? Und ich würde loslegen

00:22:02: mit dem kostenfreien ÖPNV. Dafür, dagegen?

00:22:05: Nicht für Reiche. Also, so sollte man das machen, dass alle kostenlos damit fahren.

00:22:10: Aber wenn es darum geht, die sozial Schwächere, die sie nicht leisten können, denen zu ermöglichen,

00:22:15: dann brauchen wir das nicht. Aber Millionäre brauchen keinen öffentlichen kostenlosen ÖPNV.

00:22:20: Sehr gut. Früheraufstehen. Sind Sie dafür, sind Sie früheraufsteher?

00:22:24: Mit Kindern muss ich es alle sein.

00:22:27: Ah ja, das verdirbt auf Jahrzehnte hinweg den Schlafrück. Die Vier-Tage-Woche?

00:22:33: Nein, halte ich für keine gute Idee. Ich glaube, da bin ich fast konservativ. Ich glaube,

00:22:41: dass wir da im Augenblick noch weniger arbeiten. Diese Freizeitgesellschaft, ich glaube, das

00:22:47: kann man sich gar nicht leisten.

00:22:49: Ja, alles klar. Der Kölner Karneval. Dafür, dagegen?

00:22:54: Ich bin da nicht da.

00:22:57: Okay. Sie sind nach Köln zum Studium gegangen. Wie war die erste Begegnung mit dem Kölner

00:23:02: Karneval?

00:23:03: Flucht gleich wieder. Ich bin da, ich bin Siegendahr. Ich meine, ich bin ja wirklich

00:23:07: von Kerne, von der Mentalität her, bin ich Südwestfale. Also da kriegen Sie mich nicht

00:23:12: hin.

00:23:13: Ich verstehe. Assimilation kann ja auch eine Strategie sein, aber genau Flucht ist Ihre

00:23:17: Strategie dann in dem Fall. Und die Currywurst?

00:23:21: Ja, hatten wir. Es war interessant. Meine Eltern, obwohl wir Muslime sind, ich habe mir

00:23:29: später darüber nachgedacht, als Kinder haben wir, weil wir als Kinder das so gesagt mochten,

00:23:33: bekamen wir immer Currywurst. Das war für uns immer so ein Fest. Und das hintere ist

00:23:37: mir aufgefallen, das ist doch Schweinefleisch. Wieso haben meine Eltern uns, die haben die

00:23:40: mitgegessen, aber sie haben uns die Currywurst gegönnt. Und auch wenn ich es heute nicht

00:23:46: mehr esse, so, weil ich irgendwie, der Fenster ist so was, weiß ich, aber das ist nicht mal,

00:23:50: das würde ich jetzt nicht mehr kaufen so. Aber es war für mich eine prägend erfahrene,

00:23:55: dass meine Eltern, obwohl sie sehr streng religiös waren und die Gebote beachtet haben,

00:24:00: dass wir uns Kinder irgendwie da immer in die Augen zugezuckt haben, weil die Kinder mochten

00:24:04: das, fand ich eine sehr schöne Haltung eigentlich.

00:24:06: Eine liberale Haltung.

00:24:07: Ja, absolut. Also das war, sie haben es nicht mehr zwangversucht und am Ende, also das hat

00:24:13: mir imponiert im Nachhinein.

00:24:15: Ja, eine schwierige Frage. Die Straffreiheit bei Abtreibungen bis zur zwölften Woche.

00:24:20: Also da halte ich mich ein bisschen raus. Auch manches Kompetenz, den es gibt, ist für

00:24:26: mich den Wert des ungeborenen Lebens, das Recht der Frau auf Selbstbestimmung und das muss

00:24:32: austadiert werden. Also ich sage nicht, dass das ungeborene Leben keinen Wert hat oder

00:24:37: vollkommen nur in der Hand des Individuums ist, also der Mutter ist, der austragenden

00:24:42: Mutter. Wenn man das Begriff jetzt richtig ist, weiß ich gar nicht genau. Aber ich würde

00:24:48: mich hier sagen, auch mal enthalten, weil ich es schwer zusammenbringen kann. Aber für

00:24:54: mich ist auch eine Abtreibung als Mann oder auch als religiöser Mensch, ist was schwerwiegendes

00:25:00: in jedem Fall. Und das bedeutet nicht, dass ich die schwerwiegende Gesundheit einer Frau

00:25:04: nicht auch respektiere oder vielleicht auch nicht nachvollziehen kann, weil ich ein Mann

00:25:08: bin. Insofern halte ich mich da glaube ich ein bisschen raus.

00:25:13: E-Books.

00:25:14: Lese ich nicht.

00:25:16: Das verstehe ich. Horst in der Bücherkiste würde sich freuen, glaube ich. Die Umbenennung

00:25:20: von Straßennamen wegen eines kolonialen Bezugs.

00:25:24: Hauptsache im Einzelfall. Da bin ich auch zurückhaltend, weil ich finde durch das Auslöschen von Namen

00:25:31: und damit das Vergessen von Geschichte ist oft nicht viel gewonnen. Aber man muss sehen,

00:25:36: im Einzelfall, wenn dann irgendwann Kriegshelden noch einmal Denkmäler haben, dann frage ich

00:25:41: auch in jedem Fall. Auch Denkmäler Straßennamen sind natürlich immer

00:25:47: auch in Entwicklung ausgesetzt und man muss nichts für die Ewigkeit, aber es ist, finde ich, immer eine sensible Frage und Zweifel eher behalten.

00:25:55: Bin ich eher, bin ich nicht zu schnell, Dinge zu ändern, aber Zweifel schon.

00:26:01: Und jetzt eine schwierige Frage. Pizza mit Sauce Hollandaise.

00:26:05: Den habe ich mir überhaupt nicht vorstellen.

00:26:08: Ja, vielen Dank. Das ist manchmal der Gesprächsgegenstand, der am meisten Emotionen in unseren Gesprächen hervorruft.

00:26:14: Gibt es jemand, der das ist?

00:26:16: Ja, doch schon. Es gibt sogar Menschen, die da begeistert sind. Martin Schulz war sehr klar, hat das ähnlich konnotiert wie Sie, Herr Kermani.

00:26:24: Mit ihm bin ich auch beim Thema Europa immer sehr einig gewesen.

00:26:27: Sehr gut. Das führt uns fast zur nächsten Frage. Grenzkontrollen an deutschen Grenzen.

00:26:32: Ja, habe ich ja schon beantwortet. Also ich halte das für, also gerade jetzt in der jetzigen Situation, wo wir Europa brauchen, wo wir mehr Europa brauchen, wir ein starkes Europa brauchen,

00:26:40: halte ich das auch aus diesem übergeordneten Grund für kontraproduktiv.

00:26:44: Ja, der EU-Beitritt der Ukrainer.

00:26:48: Ja, habe ich sehr früh verplädiert, weil der NATO-Beitritt auch problematisch erschien damals schon.

00:26:54: Ich sah, dass das nicht passieren wird. Ich habe sehr, sehr früh gedacht, man muss der Ukraine eine europäische Perspektive anbieten,

00:27:03: weil es der realistische Weg ist. Ob dann irgendwann die NATO-Mitgliedschaft hinzukommt, das kann ja gut sein.

00:27:08: Aber die EU-Mitgliedschaft schon sehr, sehr früh diesen Weg zu gehen, hätte ich für richtig gefunden.

00:27:14: Und auch jetzt glaube ich, unabhängig von der NATO-Mitgliedschaft, die EU ist nicht in dem Sinne, also das spricht vieles für, spricht auch vieles dagegen.

00:27:25: All die Schwierigkeiten kennen wir natürlich auch mit anderen Beitrittskandidaten. Aber die Ukraine auf diesen Weg zu beginnen, diese Öffnung zu machen,

00:27:34: Sie müssen sich vorstellen, in der Ukraine auf dem Maidan die letzten Menschen, die mit europäischen Flaggen in der Hand gestorben sind, das war auf dem Maidan.

00:27:42: Das war eine pro-europäische Revolution und hätte man auch glaube ich sehr viel klar gemacht, unabhängig vom NATO-Beitritt.

00:27:50: Es wäre als weniger aggressiv wahrgenommen worden, wenn die NATO-Mitgliedschaft wissen, es ist ein heikles Thema, aber die EU-Mitgliedschaft hätte sein müssen.

00:27:59: Das ist ja sehr unfassbar beeindruckend und ein riesiges Kompliment für diese europäische Idee, wenn man sieht, wie viele andere Menschen an anderen Orten diese Idee so sehr schätzen, dass sie da rein wollen.

00:28:13: Die Ukraine natürlich, der Kaukasus auch, auch auf dem Balkan erleben wir solche Bewegungen bei den Ländern, die noch nicht in der EU sind.

00:28:21: Letzte Frage, Urlaub am Strand.

00:28:24: Wobei ich jetzt nicht der Strandlieger bin, ich liege da nicht schon lange, aber Urlaub am Meer auf jeden Fall, das ist eigentlich sonst kein Urlaub.

00:28:31: Also Wasser ist wichtig.

00:28:33: Absolut, deshalb bin ich ja in Köln, also Rhein-Türk, da haben wir den Rhein-Türk.

00:28:36: Beim Rhein denke ich immer ans Meer, wohin er fließt, also ich denke immer, ich bin irgendwie verbunden mit dem Meer. Das gehört schon dazu bei dem großen Fluss.

00:28:45: Ja, das stimmt ja auch. Der Weg zum Meer ist da sozusagen direkt gegeben. Wenn man weniger auf Urlaube schaut, sondern auf die Reisen, an denen wir Leser teilhaben können, dann gibt es ja da diese Balkanroute zum Beispiel.

00:29:02: Und es gibt jetzt, 2024 erschienen, "In die andere Richtung" jetzt, dieses Buch, was ich ganz interessant finde, allein schon wegen der Aufmachung nach dem Inhaltsverzeichnis kommt eine Landkarte.

00:29:15: Und wahrscheinlich würden wir diese Landkarte, wenn wir über andere Regionen dieser Welt schreiben, da nicht einfügen, weil die uns viel vertrauter sind.

00:29:23: War das eine bewusste Überlegung? Hat der Verlag oder der Lektar darauf hingewiesen, wir brauchen jetzt erstmal so eine Karte, damit unser europäisches Publikum das sortieren kann und zuordnen kann?

00:29:33: Na ja, die Landkarten gab es noch bei der Balkanroute und die gab es noch bei dem Austrautgruppabuch. Also ich finde, das bin ich so altmodisch.

00:29:40: Ich schaue da auch immer so immer so gerne nach, wo lang geht denn die Reise, damit ich was so vor mir sehe und nicht nur so.

00:29:47: Also das finde ich einfach so im alten Sinne eines Reisebuchs oder eines Entdeckerbuchs irgendwie, da bin ich so ein bisschen romantisch und ich glaube, das hilft auch ein bisschen.

00:29:55: Also die Landkarte würde ich nicht so hoch bewerten, die würde ich wahrscheinlich auch machen, wenn ich ein Buch über Köln mache, dann will man ja auch wissen, ist das Sölds oder Nippes oder wo liegt eigentlich Mehrheim oder sowas.

00:30:05: Das finde ich immer ganz schön. Aber wichtig ist mir eigentlich immer bei den Reisen gewesen oder das war im Nachhinein immer so ein Impuls gewesen, dort hinzugehen, zu den Schattenregionen, also die, die nicht beleuchtet sind.

00:30:16: Das Osteuropa Buch ist ja auch zu einer Zeit entstanden, als es sich kaum jemand für Osteuropa interessierte. Also das war eben lange vor diesen ganzen und jetzt haben wir uns aufgeschlagen und es ist wie so eine Art Roadmap zu dem, was heute da ist.

00:30:31: Und ich bin auch sicher, dass die Region Ostafrika noch ganz anders in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rücken wird in den nächsten Jahren, weil sich dort so viele globale Probleme verdichten.

00:30:41: Also da in der Region zu fahren, von denen ich glaube, dass sie, dass wir mit ihnen verbunden sind, dass sie auch für uns wichtig sind, dass wir dahinschauen sollten, aber wo eben noch keine Szene in den Übertragungswagen sind, wo kaum jemand besichtet.

00:30:55: Weil man natürlich auch ganz anders neugierig sein kann, wenn noch nie jemand da war oder kaum jemand da war. Das hat mich immer interessiert.

00:31:02: Also ich will nochmal nachfragen. Sie sagen, Regionen, mit denen wir verbunden sind. Glauben Sie, dass viele Deutsche sich mit Ostafrika verbunden fühlen?

00:31:11: Naja, ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich am Eberplatz wohne und ich meine, die Drogen, wo kommen die her? Also ich weiß jetzt nicht genau, welche Drogen, das jetzt genau jeden Tag hier verkauft werden.

00:31:20: Aber die Drogensströme aus Afghanistan, die uns hier in Europa leider sehr beschäftigen und viel Uneil anrichten, die gehen halt wesentlich über Ostafrika. Die werden dort verschifft, um nur ein Beispiel zu nennen.

00:31:32: Viele Rohstoffe, das Gasprojekt in Nord-Mosambiks, Capo Delgado, das all das vom französischen Energiekonzert Total und e-Ni italienisch betrieben wird.

00:31:44: Das alleine würde genügen, die deutsche Gasversorgung für 60 Jahre zu sichern, also um mal die Dimension anzudeuten.

00:31:51: Klimawandel. Es gibt Europa, Deutschland, all die Industriestaaten verursachen den Klimawandel maßgeblich. Aber wo schlägt er am heftigsten zu? In Ostafrika.

00:32:02: Also das ist die Region, die mit am meisten betroffen ist vom Klimawandel. Länder, die so gut wie keine Emissionen produzieren, dort herrschen jetzt schon apokalyptische Verhältnisse wegen des von uns verursachten Klimawandels.

00:32:14: Das sind jetzt nur einige Beispiele, Lieferketten, um ein nächstes Beispiel zu nennen. Wir verteidigen oder haben uns mit der Ukraine solidarisch erklärt nach dem Krieg Russlands.

00:32:25: Aber wer hat gelitten? Länder im globalen Süden, in Ostafrika, die plötzlich keinen Reis mehr hatten. Also Getreide schon gar nicht. Aber weil die ganzen Lieferketten ausfielen, fiel ja nicht nur das Getreide aus.

00:32:36: Der Preis war auch wegen der ganzen vielen Wetten auf Getreidepreise, die westliche Investoren gemacht haben, hat sich nicht nur verdoppelt, sondern es kam einfach buchstäblich nichts mehr an.

00:32:46: Und zwar nicht nur Getreide, sondern Reis, obwohl der gar nicht in Europa angebaut wird. Also das zeigt, wie eng wir verflochten sind in die eine oder andere Richtung.

00:32:56: Der Reis kommt nicht mehr dort an, obwohl er aus China kommt oder aus Indien ankommt. Das Getreide aus Ukraine. Aber umgekehrt, wir geben Afghanistan Preis,

00:33:07: liefern es den Taliban aus und den Frauen, die dort sind, die sind uns vollkommen egal. 50 Prozent der Bevölkerung ist jetzt unterjocht. Kann man sagen, kann man machen.

00:33:18: Nur die Folgen sind zum Beispiel, dass die ganzen Bodentätze von China übernommen werden. Wir das dann teuer bei China einkaufen müssen und dass die Drogen ungehindert bei uns wieder einströmen.

00:33:29: Das heißt, diese Illusion zu glauben, das wäre jetzt in zwei Minuten mal ganz kurz Globalisierung zusammengefasst. Illusion zu glauben, das geht uns nicht an.

00:33:38: Das ist eine vollkommene Illusion und die kommt uns sehr, sehr teuer zu stehen. Und es kommt uns auch sehr teuer zu stehen, dass wir an Außenpolitik in den politischen Debatten praktisch nicht mehr interessiert sind.

00:33:51: Das findet nicht statt. Wir sind ja, wie Sie zu Recht sagen, zwei Tage vor der Bundestagswahl. Wenn wir da in all diese Debattenrunden schauen, die es ja zahlreich gibt, spielt Außenpolitik kaum eine Rolle.

00:34:03: Ja, ich habe das jetzt nur heute Morgen Deutschlandfunk gehört. Ich habe das nicht selber gar nicht gesehen.

00:34:07: An dem Tag, das war, glaube ich, eines dieser Duelle, ich fasse glaube, das ist das Weltbild-Duell, an dem Tag, an dem Amerika Silensky zum Feind erklärt, an dem Tag, als Trump Silensky Diktator nennt und behauptet,

00:34:24: die Ukraine habe Russland angegriffen, sei verantwortlich für den Krieg, an genau diesem Tag stellen die Moderatoren, ich habe es jetzt nur heute Morgen gerade gehört, keine einzige Frage zum Ukraine-Konflikt.

00:34:38: Das zeigt einfach, das Problem ist nicht irgendwie nur bei Putin, es ist mitten bei uns. Also diese Blindheit, diese Ignoranz gegenüber den realen Problemen ist einfach ein Teil unserer Provinzialisierung und unserer Verzwergung.

00:34:53: Das, was sich im Großen abbildet, dass wir, dass alle Bundesregierung seit früher Europa geschwächt haben, dass die Verzwergen Europas, die bildet sich eben im Kleinen ab, auch in unseren eigenen Debatten.

00:35:06: Worüber reden wir eigentlich?

00:35:07: Sie haben an irgendeiner anderen Stelle, ich weiß nicht, ob gesagt oder geschrieben, dass das in gewisser Weise vielleicht erklärbar ist.

00:35:16: All diese Probleme, die Sie beschrieben haben, sind nur international, sind nur mit Kooperation zu lösen. Die Verflechtung ist immer enger und vielleicht deshalb gibt es diesen Rückzug.

00:35:26: Festhalten an dem letzten bisschen die Vorstellung, wir könnten hier die Grenzen hoch machen und damit unser Leben regulieren, die eine Illusion ist, aber vielleicht irgendwie sozusagen darauf auch ein Reflex, eine Reaktion.

00:35:40: Ja, aber eben ein falscher Reflex. Also das ist halt das, was ich auch versuche, red ja mit allen möglichen Leuten nicht mehr, also Leuten, die überhaupt nicht meinem politischen Effekt zum Angehören.

00:35:51: Und was ich versuche immer klarzumachen, also so eine BSW-Position oder eine AfD-Position, nicht, dass ich die einsetze, sie ist maximal antipatriotisch.

00:36:01: Sie schadet uns, ökonomisch, strategisch, politisch. Es kann doch nicht patriotisch sein, sich Putin zu unterwerfen. Es kann doch nicht patriotisch sein, sich Trump zu unterwerfen.

00:36:11: Wir werden zum Spielball äußerer Interessen, äußerer Mächte. Das heißt, und da Deutschland so klein ist, um gegen diese Mächte zu bestehen, ist es unsere einzige Chance im europäischen Bund.

00:36:23: Natürlich bin ich auch für die europäischen Werte, natürlich bin ich für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, all das. Das ist ja nicht unverbunden mit der ökonomischen Seite.

00:36:33: Aber wir haben überhaupt nur eine Chance, nationale Interessen durchzusetzen, zu bewahren, uns zu verteidigen, Resilienzen zu entwickeln gegen diese Einflussmächte von außen,

00:36:45: die jetzt mit Milliarden, mit Billionen, die Technokonzerne, die uns, die jedes Mal, wenn wir den Laptop aufklappen, jedes Mal, wenn wir das Smartphone einschalten,

00:36:54: sind wir in der amerikanischen Einflusssphäre, sind wir in der chinesischen Einflusssphäre. Die einzige Chance, die wir hätten, wäre Europa.

00:37:01: Und ich glaube, ich halte einfach einen Nationalismus, einen deutschen oder italienischen oder französischen Nationalismus in der gegenwärtigen Situation für maximal eigentlich antinational gedacht.

00:37:12: Das heißt, ich versuche, wie bei der Flüchtlingsdebatte, ich bin hoffentlich ein Humanist, ich bin ein Befürworter Europas, nicht wegen der ökonomischen Stärke oder des Binnenmarktes,

00:37:24: aber im Augenblick ist mein Argument immer ein Interessenargument. Wir schaden unseren eigenen Interessen, wenn wir für nationale Lösungen verdienen.

00:37:33: Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein.

00:37:36: Willi Brandt, diese 90er Jahre Helmut Kohl nach der Deutschen Wiedervereinigung, das war ja so ein Doppelmotiv, wenn ich das richtig einordne.

00:37:46: Man sichert quasi die deutsche Einheit ab, indem man den anderen signalisiert, wir können gar nicht wieder gefährlich werden, weil wir uns hier so eng einbinden.

00:37:54: Und es ist sozusagen ein Eigeninteresse. Wenn wir in einer globalisierten Welt irgendeine Rolle spielen wollen, mit unserer Art zu leben,

00:38:02: dann brauchen wir dieses Europa und dann ist ja Helmut Kohl da vorangegangen wie eine Dampfwalze sozusagen.

00:38:08: Die Not ist ja groß. Sie haben die USA angesprochen, aus Russland hören wir auch Töne. Alexander Dugin, der Vordenker, Einflüsterer von Herrn Putin formuliert,

00:38:18: wenn jetzt nicht in Deutschland die extreme Rechte gewählt wird, warum sollten wir es nicht wieder besetzen und dann aufteilen zwischen den USA und Russland.

00:38:27: Ein absurd erscheinender Gedanke, der aber das Denken sozusagen skizziert. Sie haben ja eben schon aufgezeigt, was sich ändern müsste.

00:38:35: Wir bräuchten in dem politischen Raum eine andere Europadebatte, ein anderes Bekenntnis zu Europa. Was muss ich noch tun?

00:38:42: Also die Politikerinnen und Politiker alleine sind es ja nicht, die diese Debatten gerade prägen, sondern viele andere.

00:38:49: Also wie kommen wir da hin sozusagen dieses Europa wieder als Zukunft und als besten Ort für diese Zukunft zu begreifen?

00:38:57: Da haben wir natürlich recht. Es sind nicht die Politiker alleine. Die Politiker sind immer Ausdruck auch an der gesellschaftlichen Stimmung.

00:39:02: Das sind ja Leute, die kommen aus der Gesellschaft und die nehmen das auf oder sagen das in die Politik, was auch in der Gesellschaft gerade so gedacht wird.

00:39:11: Vielleicht haben wir zu wenig Politiker, aber da kann man auch an die Lebensläufe, an die Art und Weise, wie man heute Politiker wird, denken. Zu wenig Politiker, die jetzt nicht nur Dinge aufnehmen, sondern quasi vorausdenken.

00:39:23: Dieses Denken, was hätten wir viele der Erwungenschaften nie gehabt, wenn man sich einfach nur an den Stimmungen entlang orientiert hätte.

00:39:31: Aber es ist insgesamt, und ich glaube der Punkt ist der, man hat die europäische Idee, die ist ja nicht neu, die ist ja nicht von 1945 entstanden.

00:39:38: Die gibt es seit dem 18. und 19. Jahrhundert. Die ist eigentlich parallel entstanden mit der Bildung der Nationalstaaten.

00:39:44: Da haben wir schon sehr viele Menschen, Dichter, Denker. Es war ja wirklich ein Dichter-Denker-Projekt.

00:39:50: Die oft verlachten Dichter waren diejenigen, die Europa zuerst gedacht haben.

00:39:55: Aber eben auch viele Angehörige von Minderheiten. Speziell, es war kein Zufall, dass es sehr viele jüdische, deutsche, franzosen waren, die dieses Europa vorausgedacht haben.

00:40:04: Weil sie in diesen entstehenden Nationalstaaten nicht mit diesem Gedanken der Einheit von Volk, von Sprache, von Nation nicht vorkamen.

00:40:15: Weil sie gemerkt haben, sie finden da eigentlich keinen Platz. Das wird sie ausgrenzen.

00:40:19: Und so kam schon im 18. und 19. Jahrhundert mit Goethe, mit Rousseau, mit Heine kam dieser Gedanke, auf das wir eigentlich Europäer sind.

00:40:27: Dass das unsere Zukunft ist. Und da war, speziell aus Deutschland kam der Gedanke auf.

00:40:32: Die Deutschen galten auch immer im 18. und 19. Jahrhundert als die Europäer. Das war ganz stark.

00:40:40: Aber es wurde nicht Realität, weil die Menschen die Notwendigkeit nicht gespürt haben.

00:40:46: Es wurde quasi nicht als Massenidee, es wurde nicht übernommen. Und diese Notwendigkeit wurde erst so klar 45.

00:40:54: Der Nationalismus hat Europa in die Katastrophe zweimal geführt.

00:40:59: Das war der Moment, wo vorausblickende Politiker schon während des Zweiten Weltkrieges diese Idee,

00:41:08: dieses Phantasma eines einigen Europas ganz konkret mit Montanunion, mit Wirtschaftsunion, ganz konkret gedacht haben, übertragen haben in Politik.

00:41:19: Und wann hat diese Idee an Dynamik verloren? Als die Generation, die noch mit dem Zweiten Weltkrieg sozialisiert worden ist, nämlich die 68er,

00:41:28: als sie abtraten, hat auch die Europäische Union an Dynamik verloren. Dann war Europa nur noch ein pragmatisches Projekt.

00:41:35: Was bringt es mir? Was schadet mir gerade ein bisschen? Dann nehme ich nicht so ernst.

00:41:41: Das war ja Sarkozy Merkel, dieser Wechsel von dem immer noch mit dem Krieg sozialisierten Schröder Fischer zu denen.

00:41:49: Und das waren nicht nur die beiden, das war eigentlich auch publizistisch.

00:41:52: Also es war kein Habermasmer da, der noch da aufgewachsen ist in Europa.

00:41:56: Plötzlich hatten wir Publizisten, die irgendwie gar nicht mehr verstanden, warum es Europa braucht.

00:42:01: Offene Grenzen, Schön und Gut, EasyJet, ja, aber das war ja nicht der Grund.

00:42:06: Und ich glaube, dass jetzt ein Moment ist, wo wir vielleicht wieder eine extensuelle Unwändigkeit neu begreifen, warum es Europa braucht.

00:42:14: Ich hoffe es jedenfalls, dass man das begreift. Insofern ja, es sind nicht nur Politiker, es ist nicht nur Herr Merz oder Herr Scholz oder Herr Habeck.

00:42:23: Die Gesellschaften begreifen vielleicht wieder, dass sie ohne Europa nicht sind, dass sie ausgesetzt sind, dass sie schwach sind.

00:42:32: Und das wird dann vielleicht auch wieder zu anderen politischen Lösungen führen, zu anderen Politikern oder Politikern, die anders reden als in den letzten Jahren.

00:42:41: Sie haben ja sich damit abgegrenzt von diesem pragmatischen Bild von Europa.

00:42:48: Ich habe den Eindruck aus anderen Podcasts, die ich mit Ihnen gehört habe, wenn man sie richtig provozieren will, dann muss man sie nach Realpolitik fragen.

00:42:55: Und dann geraten sie in Rage. Das Gegenteil wäre ja Ideale, ja, bestimmte Vorstellungen, von denen man weiß, sie sind heute vielleicht nicht mehrheitsfähig.

00:43:04: Aber sie sind richtig, weil wir davon überzeugt sind, normativ, ja, die zu verbreiten, die sozusagen mehrheitsfähig zu machen.

00:43:13: Brauchen wir in diesem Sinne mehr Ideale, brauchen wir mehr Mut sozusagen auch für was, was im Moment unpopulär ist?

00:43:21: Also ein Punkt ist der, dass ich Realpolitik für realpolitisch höchst schädlich halte.

00:43:25: Also da gibt es so viele Beispiele, wo kurzfristiges Interesse, und das nehmen Sie nur das deutsche, das GAS aus Russland, wo man wegen kurzfristiger materieller Interessen oder nehmen Sie nur,

00:43:37: jetzt nehme ich mal ein weit entferntes Beispiel, Sudan. Es liegt weit entfernt, aber als es dort die Revolution gab, haben wir uns nicht engagiert.

00:43:46: Wir haben letztendlich auf Stabilität gedacht, wen haben wir gefördert, genau die beiden Generäle, die sich jetzt bekämpfen.

00:43:53: Wir haben nicht die demokratischen Kräfte unterstützt, wir haben nicht massiv gesagt, jetzt wo aus dem Sudan heraus selbst, vor allem auch von Frauen,

00:44:01: eine Revolution gegen einen islamistischen Machthaber gelingt, wo das gelungen ist, engagieren wir uns vielfältig, Entwicklungspolitik, politische Bildung und so weiter und so weiter.

00:44:12: Wir waren ja willkommen, wir haben es nicht gemacht. Stattdessen haben wir auf Stabilität gesetzt.

00:44:17: Wir haben denjenigen die Kräfte gefördert, die jetzt das Land in den Abgrund getrieben haben, mit dem schlimmsten Krieg unserer Gegenwart.

00:44:26: Unsere Realpolitik ging so weit, dass wir Menschen, die für den Genoziden davor verantwortlich waren, nämlich den Führer der RSF, bezahlt haben, damit er Flüchtlinge abwehrt.

00:44:38: Das ist Realpolitik. Und wie schädlich ist das, wenn Sie jetzt an Migrationsströme, an Flüchtlinge denken, an Terrorismus denken, haben wir uns selbst massiv geschadet.

00:44:49: Ein weiteres Beispiel. Ich könnte jetzt die Liste von gescheiteter Realpolitik endlos fortsetzen und daran erinnern, was Amerika nach dem Weltkrieg nicht gemacht hat,

00:44:59: nämlich nicht Realpolitik betrieben in dem Sinne. Amerika hat nach dem zweiten Weltkrieg, wo es sehr viele Kräfte gab in Amerika, in den Vereinigten Staaten,

00:45:07: die gesagt haben, wir müssen Deutschland bestrafen, wir müssen es deindustrialisieren, wir müssen es jetzt in den Boden drücken, Kräfte gegen die Mehrheitsmeinung in den Vereinigten Staaten.

00:45:18: Die haben argumentiert, nein, wir werden Deutschland als Partner brauchen, besser wir verbünden uns mit Deutschland, besser wir engagieren uns in Deutschland,

00:45:27: damit es eine Zukunft unserer Partner sein kann. Das war nicht Realpolitik im Sinne eines kurzfristigen Interesses, sondern wirkliche Realpolitik.

00:45:35: Nämlich, wenn Sie Realpolitik so definieren, dass es auch die Interessen unserer Kinder berücksichtigt, die Interessen der nachfolgenden Generation,

00:45:43: dann wäre ich sehr für Realpolitik. Wogegen ich mich wende, ist diese bekloppte Idee von Realpolitik bis zu den nächsten Wahlen oder bis zum nächsten Haushalt oder bis zum, was bringt es uns kurzfristig?

00:45:56: Das ist nicht Realpolitik, das ist Idiotie, die uns realpolitisch massiv schadet, wie es gibt kein Land in Europa außer der Ukraine selbst,

00:46:05: für die der Ukrainekrieg so schädlich war wie Deutschland. Und wer hat dafür plädiert, die deutsche Energiesicherheit komplett an Putin weiterzugeben?

00:46:16: Es war Deutschland. Das heißt, wir haben sehr viel realpolitischen Schaden gehabt aufgrund unserer deutschen Realpolitik.

00:46:23: Das kann ja sehr dazu ermutigen, quasi die Dinge langfristiger in den Blick zu haben, auch für Positionen zu werben, die eben gerade nicht populär sind,

00:46:32: die gerade keine Mehrheiten haben, weil sie aber langfristig in unserem Interesse sind und so mit Realpolitik sind.

00:46:38: Herr Kermani, wir sind fast am Ende unserer Zeit. Es ist ja ein Podcast, da geht es um Engagement, da geht es darum, wofür es sich lohnt einzutreten,

00:46:46: wie man das vielleicht auch besonders gut und geschickt machen kann. Sie sind ja als jemand der Fan des ersten FC Köln,

00:46:53: ist auch jemand, der weiß, dass es manchmal Geduld braucht, bevor man quasi belohnt wird mit schönen Erlebnissen, mit Erfolgen.

00:47:01: Das würden Sie Menschen sagen, die sich engagieren. Wofür lohnt es sich zu engagieren? Was sind die großen Themen, die Treiber, die uns Hoffnung geben können in unserem Engagement?

00:47:11: Also ich würde erstmal empfehlen, besser nicht auf den ersten FC Köln zu schauen, weil man da ja zuverlässig getäuscht wird.

00:47:16: Also meine Geduld ist schon längst am Ende. Wir sind immer noch in der Rorita der zweiten Liga. Also das ist kein gutes Vorbild.

00:47:26: Da würde ich eher für eine Revolution plädieren, beim ersten FC Köln. Sonst sind wir da noch ewig. Da krebsen wir da rum und zwischen erster und zweiter Liga.

00:47:34: Trotz unseres riesigen Potenzials. Nein, was mir Hoffnung macht, ist immer, dass das Unerwartete passiert.

00:47:43: Also das ist ja etwas, dass wir eigentlich, wenn wir zurückblicken, oft Dinge passiert sind, an die wir nicht gedacht haben.

00:47:50: Und diese Möglichkeit zu bewahren, dass Unerwartetes passieren kann. Dass Dinge passieren können, an die wir am Augenblick nicht denken.

00:47:57: Diese Möglichkeit des Zufalls noch oder des unwahrscheinlichen offen zu halten. Das ist etwas.

00:48:04: Und im Augenblick, wenn ich schaue, ich glaube, dass links und rechts so wir, Ihr Alter, mein Alter, eigentlich bis zum Ende mit den Lateinen sind.

00:48:13: Also meine Hoffnung ist wirklich, bei den jüngeren Menschen, es geht natürlich nicht die Jugend. Aber ich merke schon eine viel stärkere Politisierung wieder bei jungen Menschen.

00:48:22: Das war jetzt viele Jahre weg. Das sieht man auch im Interesse jetzt, wie plötzlich aus dem Nichts bei der Europawahl, da hatte mich meine Tochter darauf hingewiesen.

00:48:30: Da hatte sich in den Umrufragen noch gar nichts abgebildet. Sie sagte ganz lange vorher, Volt wird stark sein. Volt war stark.

00:48:38: Meine Tochter sagte, die Linken werden hochkommen. Da habe ich gedacht, die Linken sind über drei Prozent und sie kamen hoch.

00:48:44: Da merke ich, da tut sich auf Wegen, die ich gar nicht kenne, bei den ganz schlimmen sozialen Netzwerken, die ich für ganz schlimm halte.

00:48:51: Aber offenbar bilden sich andere Kommunikationswege oder andere Argumentationsmuster, von denen ich hoffe, klar, dass die jungen Menschen merken,

00:49:00: dass das Versprechen der Zukunft wird alles besser, gibt es nicht mehr. Entwicklung ist klargestellt worden, ist kein positiver Begriff mehr,

00:49:08: weil wir alle befürchten, Entwicklung wird zu was Negativen führen. Die Zukunft ist ungewiss. Sie müssen an den Klimawandel denken.

00:49:16: Und ich glaube, aus dieser Verzweiflung heraus, aus dieser Ratlosigkeit heraus, es könnte dazu führen, dass man die Gemütlichkeit aufgibt, dass man sich bewegt.

00:49:26: Und da sind wir vielleicht zu satt gewesen. Und das waren viele Dinge für uns viel zu selbstverständlich.

00:49:32: Wir sind nicht mal selbstverständlich. In den Klassen ist es nicht mehr selbstverständlich, ob der Mitschüler morgen noch dazugehört.

00:49:39: Ob nicht zu fragen, wie die sich mir gestellt haben am Anfang unseres Podcasts, wenn ich verhaftet werde bei der Blockade,

00:49:47: könnte das ganz andere Probleme aufwerfen als für meine deutschen Mitschüler. All das ist plötzlich wieder real geworden.

00:49:54: Wenn Sie an die Canada, wenn Sie an Trumps Plenit denken. Also ich weiß nicht, wohin es geht.

00:50:02: Aber die Notwendigkeit und auch Verzweiflung ist bei jüngeren Menschen die Zukunftsangst.

00:50:08: Bei jüngeren Menschen ist wahrscheinlich sehr viel größer als bei uns. Und aus der Angst, aus der Verzweiflung, aus der Ratlosigkeit wird vielleicht etwas erwachsen, was wir noch gar nicht ersehen.

00:50:19: Herzlichen Dank, Herr Kermani. In der Tat. Ich schätze das auch so ein. Da liegt Hoffnung drin.

00:50:25: Eine große Politisierung. Und wenn man auf die ganz jüngsten Wahlergebnisse schaut, die noch nicht einzählen an der Warnurne,

00:50:33: die U18 Wahlen, dann sind die ja tatsächlich ganz anders und gehen in eine andere Richtung.

00:50:38: Ja, und ich muss auch sagen, wenn ich das noch sagen darf, die Art und Weise, wie Sie über Probleme reden, nämlich nicht ausgrenzend, fragen, zweifeln.

00:50:46: Das gefällt mir ausnehmen gut. Ich bin im Augenblick, also wenn ich mal in Schulen bin, gelegentlich bin ich das.

00:50:51: Ich bin wirklich jedes Mal begeistert über die Art und Weise, wie dort gesprochen wird. Und das war ich nicht immer.

00:50:56: Ich war auch oft schon genervt, wenn ich mal in Schulen war vor ein paar Jahren, weil die irgendwie unistressiert waren.

00:51:02: Das nehme ich heute anders wahr. Und das wäre im Augenblick meine größte Hoffnung.

00:51:07: Herzlichen Dank, Herr Kermani, für den hoffnungsvollen Ausblick.

00:51:10: Danke Ihnen sehr für das Gespräch, für den großen Bogen, den wir da geschlagen haben, quasi vom Iran über Siegen nach Europa und in die große weite Welt.

00:51:19: Vielen Dank für die Offenheit. Vielen Dank für das Engagement im Gespräch.

00:51:24: Ich danke Ihnen.

00:51:26: [Musik]

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